Proseminar NdL: Schillers ästhetische Schriften

Seminararbeit

*Primärliteratur * Schiller: Klage der Ceres

*Aufgabe * Erweiterung des Referats * Bezug zu ästhetischen Schriften herstellen


Schiller, Friedrich: Klage der Ceres (1797)

Ist der holde Lenz erschienen? Hat die Erde sich verjüngt? Die besonnten Hügel grünen, Und des Eises Rinde springt. Aus der Ströme blauem Spiegel Lacht der unbewölkte Zeus, Milder wehen Zephyrs Flügel, Augen treibt das junge Reis. In dem Hain erwachen Lieder, Und die Oreade spricht: Deine Blumen kehren wieder, Deine Tochter kehret nicht.

Ach, wie lang ist's, daß ich walle

Suchend durch der Erde Flur! Titan, deine Strahlen alle Sandt' ich nach der theuren Spur; Keiner hat mir noch verkündet Von dem lieben Angesicht, Und der Tag, der Alles findet, Die Verlorne fand ich nicht. Hast du, Zeus, sie mir entrissen? Hat, von ihrem Reiz gerührt, In des Orkus schwarzen Flüssen Pluto sie hinabgeführt?

Wer wird nach dem düstern Strande

Meines Grames Bote sein? Ewig stößt der Kahn vom Lande, Doch nur Schatten nimmt er ein. Jedem sel'gen Aug' verschlossen Bleibt das nächtliche Gefild, Und so lang der Styx geflossen, Trug er kein lebendig Bild. Nieder führen tausend Steige, Keiner führt zum Tag zurück; Ihr Thränen bringt kein Zeuge Vor der bangen Mutter Blick.

Mütter, die aus Pyrrhas Stamme,

Sterbliche, geboren sind, Dürfen durch des Grabes Flamme Folgen dem geliebten Kind; Nur was Jovis Haus bewohnet, Nahet nicht dem dunkeln Strand, Nur die Seligen verschonet, Parzen, eure strenge Hand. Stürzt mich in die Nacht der Nächte Aus des Himmels goldnem Saal! Ehret nicht der Göttin Rechte, Ach, sie sind der Mutter Qual!

Wo sie mit dem finstern Gatten

Freudlos thronet, stieg' ich hin, Träte mit den leisen Schatten Leise vor die Herrscherin. Ach, ihr Auge, feucht von Zähren, Sucht umsonst das goldne Licht, Irret nach entfernten Sphären, Auf die Mutter fällt es nicht, Bis die Freude sie entdecket, Bis sich Brust mit Brust vereint Und, zum Mitgefühl erwecket, Selbst der rauhe Orkus weint.

Eitler Wunsch! verlorne Klagen!

Ruhig in dem gleichen Gleis Rollt des Tages sichrer Wagen, Ewig steht der Schluß des Zeus. Weg von jenen Finsternissen Wandt' er sein beglücktes Haupt; Einmal in die Nacht gerissen, Bleibt sie ewig mir geraubt. Bis des dunkeln Stromes Welle Von Aurorens Farben glüht, Iris mitten durch die Hölle Ihren schönen Bogen zieht.

Ist mir nichts von ihr geblieben?

Nicht ein süß erinnernd Pfand, Daß die Fernen sich noch lieben, Keine Spur der theuren Hand? Knüpfet sich kein Liebesknoten Zwischen Kind und Mutter an? Zwischen Lebenden und Todten Ist kein Bündniß aufgethan? Nein, nicht ganz ist sie entflohen! Nein, wir sind nicht ganz getrennt! Haben uns die ewig Hohen Eine Sprache doch vergönnt!

Wenn des Frühlings Kinder sterben,

Wenn von Nordes kaltem Hauch Blatt und Blume sich entfärben, Traurig steht der nackte Strauch, Nehm' ich mir das höchste Leben Aus Vertumnus' reichem Horn, Opfernd es dem Styx zu geben, Mir des Samens goldnes Korn. Trauernd senk' ich's in die Erde, Leg' es an des Kindes Herz, Daß es eine Sprache werde Meiner Liebe, meinem Schmerz.

Führt der gleiche Tanz der Horen

Freudig nun den Lenz zurück, Wird das Todte neu geboren Von der Sonne Lebensblick. Keine, die dem Auge starben In der Erde kaltem Schooß, In das heitre Reich der Farben Ringen sie sich freudig los. Wenn der Stamm zum Himmel eilet, Sucht die Wurzel scheu die Nacht; Gleich in ihre Pflege theilet Sich des Styx, des Äthers Macht.

Halb berühren sie der Todten,

Halb der Lebenden Gebiet; Ach, sie sind mir theure Boten, Süße Stimmen vom Cocyt! Hält er gleich sie selbst verschlossen In dem schauervollen Schlund, Aus des Frühlings jungen Sprossen Redet mir der holde Mund, Daß auch fern vom goldnen Tage, Wo die Schatten traurig ziehn, Liebend noch der Busen schlage, Zärtlich noch die Herzen glühn.

O so laßt euch froh begrüßen,

Kinder der verjüngten Au! Euer Kelch soll überfließen Von des Nektars reinstem Thau. Tauchen will ich eure Strahlen, Mit der Iris schönstem Licht Will ich eure Blätter malen, Gleich Aurorens Angesicht. In des Lenzes heiterm Glanze Lese jede zarte Brust, In des Herbstes welkem Kranze Meinen Schmerz und meine Lust.

Ausarbeitung

''SCHILLERS KLAGE DER CERES IM LICHT SEINER SCHRIFTEN ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN IN EINER REIHE VON BRIEFEN''

Im Anschluss an seine theoretische Beschäftigung tastet sich der Dichter Friedrich Schiller zurück zur Literatur. Die Auseinandersetzung mit Philosophie und Ästhetik hinterlässt in den nun entstehenden Schriften zumindest Spuren, wenn sie nicht so-gar dem direkten Versuch der Umsetzung seiner Erkenntnisse dienen. Besonders der Zeitraum zwischen 1795 und 1799, auch Schillers klassische Periode genannt, zeugt davon; es ist eine Phase in der in rascher Abfolge signifikante Werke, insbesondere lyrische, entstehen. Neben zahlreichen Liedern und Balladen, der Arbeit am Wallen­stein und an Maria Stuart, ist das seine Gedankenlyrik1. Anders als in der Erleb-nislyrik geht es in dieser Art von Poesie, dem Ideengedicht, nicht um ein konkretes Erlebnis und damit verbundene Gefühle, stattdessen wird hinter dem Inhalt ein, zum Beispiel philosophischer, Gedanke verarbeitet. «Im Zentrum der klassischen Lyrik steht nicht Erlebtes, sondern stehen die 'philosophischen' Gedichte.»2

Es fällt jedoch schwer, eine simple Definition zu dieser Art von Lyrik zu geben. Auch die knapp gehaltene Beschreibung im Brockhaus ist nicht vollständig gelun­gen: «Gedankenlyrik. [...] Lyrik als betonter Ausdruck von Gedanken [...], Vorstel­lungen, Idealen usw., doch [...] immer verbunden mit innerem, gefühlshaftem Er­leben.»3 Mit Schillers eigenen Worten kommt man der Gedankenlyrik wohl am Nähsten.

In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun [...]. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sey, wirkt also jederzeit einsch­ränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freyheit zu erwarten. Darinn also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt [...].4 (Hervorhebung F. Schiller)

Durch die «Vertilgung» kann der Gedanke erscheinen, der dem ganzen Kunstwerk, also zum Beispiel einem Ideengedicht, unterliegt, die Idee, die, so Schiller, «der Meister mit unendlicher Kunst in der Harmonie des Ganzen verschwinden machte.»5 Auch das Ideengedicht Klage der Ceres6 hat einen tieferen Kern und be-ruht nur vordergründig auf dem Mythos um die Entführung der Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres in die Unterwelt. Diesen zu finden, ist ohne eine Analyse des Gedichts nicht möglich, ebensowenig als wenn die ästhetischen Schriften Schillers außer Acht blieben.

Schiller ästhetisiert für seine Gedanken- oder Ideengedichte gerne Stoffe der anti­ken Mythologie. Assoziationen mit den jeweiligen mythischen Figuren und denen mit ihnen verbundenen Erzählungen erzeugen eine «Konzentration von Bedeut-ungen»7. Gleichzeitig findet meist eine Selektion in Form von Vereinfachungen, Kürzungen und Verformungen statt, die im Dienst der Wirkungsabsichten stehen. In der Elegie Klage der Ceres besteht die Selektion in der unvollständigen Wiedergabe des Mythos um die Göttin des Ackerbaus, der Erdmutter Ceres8. Er ist verkürzt auf Ceres Klage nach ihrer von Pluto entführten Tochter und der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit dieser. Schiller lässt aus, dass Ceres sich vom Olymp zurückzieht und die Natur auf ihr Geheiß verdorrt bis ein Kompromiss gefunden wird: In den Wintermonaten befindet sich die Tochter der Ceres neben Pluto als Herrscherin in der Unterwelt, den Rest des Jahres verbringt sie als Proserpina im Olymp9. In der Mythologie weigert Ceres sich die Endgültigkeit des Todes anzuerkennen und setzt ihren Willen durch10. Im Gedicht Klage der Ceres wird ein Ausschnitt gezeigt; die Göttin befindet sich an einem Punkt der Verzweiflung, da die Aussicht ihre Tochter wiederzusehen gering ist. Die Göttin Ceres in Schillers Gedicht ist nicht mit der mythologischen Gestalt gleichzusetzen.

''Sie ist nicht die gewaltige Fruchtbarkeitsgöttin, die aus Wut und Trauer über den Raub ihrer Tochter alles Wachstum auf Erden einstellt [...]. Ja, Schiller beraubt Ceres nicht nur ihrer Macht über Leben und Wachstum in der Natur, sondern läßt sie sogar die Menschen um ihre Sterblichkeit beneiden [...]11''

Um das Gedicht besser fassen zu können, soll eine inhaltliche Dreiteilung der elf Strophen zu jeweils zwölf Versen vorausgesetzt werden12. Dabei steht Strophe 1 in herausgehobener Position, bereits angedeutet durch die zweite Person Singular im Text. Ab der zweiten Strophe kann man von einem Monolog der Ceres sprechen, der sich in zwei Teile zerlegen lässt: Die Trauer über den Verlust Proserpinas (Strophe 2 bis Strophe 6) und die fortschreitende Akzeptanz der Verhältnisse (Strophe 7 bis Strophe 11). Neben der rein inhaltlichen Argumentation für diese Art der Unterteilung des Gedichts scheint auch der grammatikalische Perspektiven­wechsel von der zweiten in die erste Person Singular nach der ersten Strophe Stütze dieser Sichtweise zu sein.

Formal sind keine Auffälligkeiten zu verzeichnen. Der Kreuzreim ist ohne Ab­weichungen vorhanden, ebenso sind das trochäische Versmaß, der pro Vers vier Hebungen aufweist, und die alternierenden Kadenzen äußerst regelmäßig. Merkwürdig erscheint, dass Schiller die Namen der Götter aus der griechischen und römischen Tradition vermischt. So ist Ceres die römische Version der Demeter, Pluto stellt die römische Form des Hades dar, aber Zeus als griechische Figur wird nicht in seiner Entsprechung des römischen Gottes Jupiter gebraucht. Dabei über­nahmen die Römer den Mythos von den Griechen. Als Erklärung mag dienen, dass Schiller die Namen womöglich rein im Interesse der Form wählte.

In Strophe 1 kehrt das Leben nach dem Winter zurück. Die Natur wird erneuert und für Ceres keimt die Hoffnung auf die Wiederkehr Proserpinas aus dem Orkus auf. Doch V.11 und V.12 malen ein anderes Bild.

''Deine Blumen kehren wieder, Deine Tochter kehret nicht.''13

Nicht alles wird wieder hergestellt: Proserpina bleibt nach wie vor von der Erdober­fläche verschwunden. Die dargestellte zyklische Natur steht im Gegensatz zur End­gültigkeit des Todes14; Proserpina herrscht von nun an in der Unterwelt mit ihrem Gatten Pluto. Gleichzeitig stellen sich die vorangehenden personifizierenden Naturbeschreibungen bei näherer Betrachtung als Trugbilder heraus.

''Aus der Ströme blauem Spiegel Lacht der unbewölkte Zeus, Milder wehen Zephyrs Flügel, Augen treibt das junge Reis.''15

Das Bild des Zeus ist eine Spiegelung, kein Wechselbild; der Reis kann nicht sehen, er treibt blinde Triebe16. Der Rückgriff auf das Problemfeld der Visualität taucht auch im Weiteren auf, da Ceres in den folgenden Strophen des Gedichts wiederholt den fehlenden visuellen Kontakt beklagt. Die personifizierende Sprache ist eine Il­lusion, in der keine belebten Dinge dargestellt werden. «Die besonnten Hügel grün­en, / Und des Eises Rinde springt.» (V.3f): Sowohl die Hügel als auch das Eis sind Teile der Natur, selbst jedoch nicht lebendig. Die in der Natur vorgestellte Har­monie ist Trug.

Ceres berichtet in Strophe 2 zuerst von ihrer Suche nach Proserpina und von welchen Mitteln sie Gebrauch macht, um auf die Spur der verschollenen Tochter zu kommen.

''Titan, deine Strahlen alle Sandt' ich nach der theuren Spur, Keiner hat mir noch verkündet Von dem lieben Angesicht, Und der Tag, der alles findet, Die Verlorne fand er nicht.''17

Die Schuld glaubt sie bei ihren Geschwistern Zeus und Pluto zu wissen (V.21 – V.24). In der Mythologie wird die Tochter der Ceres von Pluto begehrt. Von Zeus bekommt er die Erlaubnis, das Mädchen zu sich zu nehmen, von Demeter ist im Voraus klar, dass sie ihr Einverständnis nie geben würde. Pluto lässt «eine Blume von wunderbarer Größe und Schönheit aus dem Boden sprießen»18, die Proserpina anzieht; er bricht an dieser Stelle aus der Erde heraus und nimmt sie mit zu sich in die Unterwelt, in der er sich mit ihr vermählt. So tragen beide Brüder die Schuld am Raub, der für Ceres den Tod ihrer Tochter bedeutet.

Proserpina ist Ceres entrissen worden und es gibt für sie keine Chance, Kontakt aufzunehmen (Strophe 3). Keiner kann ihr «Grames Bote seyn» (V.26), denn wer in die Unterwelt gelangt, kann niemals wieder aus ihr fliehen und Ceres berichten, wie Proserpina lebt. Als Göttin selbst bleibt ihr der Zugang verwehrt, denn der Orkus ist «[j]edem sel'gen Aug' verschlossen» (V.29).

Ihre Unsterblichkeit erscheint Ceres in Strophe 4 wie eine Last; sie entwickelt einen Neid auf Sterbliche, die im Tod mit ihren Kindern vereint sein können (vgl. V.37 – V.40). Als Göttin kann sie nicht sterben, hat aber dennoch nicht die Macht, das Kind wiederzuholen oder selbst in die Unterwelt zu gehen.

''Nur die Seligen verschonet, Parzen, eure strenge Hand. Stürzt mich in die Nacht der Nächte Aus des Himmels goldnem Saal, Ehret nicht der Göttinn Rechte, Ach! sie sind der Mutter Qual!''19

Ihre Bitte, die Parzen – die drei Göttinnen des Schicksals – mögen ihr den Zugang nicht verwehren und ihr Leben also beenden, fruchtet nicht.

Ceres imaginiert ihre Reise in die Unterwelt in Strophe 5. Darauf deuten die Kon­junktivformen «stieg» (V.50) und «[t]räte» (V.51) hin20; die Göttin malt sich aus, was geschehen würde, erfüllte sich ihr Wunsch. Es ist keine reale Begebenheit. Die Vorstellung der Ceres malt folgendes Bild: Nachdem sie sich in die Unterwelt geschlichen hat, erblickt sie ihre Tochter Proserpina, die «umsonst das goldne Licht» sucht (V.54), das vom Olymp und den Göttern ausgeht. Erst nach einer Weile fällt ihr Auge auf Ceres und bei der Begrüßungsszene wird selbst Pluto weich.

Doch Ceres ist sich bewusst, dass dies nur Wunschdenken ist. Strophe 6 stellt indes die Akzeptanz der Verhältnisse dar und ist ein Wendepunkt. Der Tod ist nach wie vor unumkehrbar. Es herrschen die Naturgesetze: Kontinuität, dargestellt durch den Sonnenwagen, der seine Route nie ändert, «Ruhig in dem gleichen Gleis / Rollt des Tages sichrer Wagen,» (V.62f) und die Determination, die durch Zeus gegeben ist, nämlich «Ewig steht der Schluß des Zeus» (V.64)21. Dies sind Kräfte, die Ceres nicht zu durchbrechen vermag. So bleibt die Tochter «ewig mir geraubt» (V.68).

''Bis des dunkeln Stromes Welle Von Aurorens Farben glüht, Iris mitten durch die Hölle Ihren schönen Bogen zieht.''22

Am Ende der Zeit erst ist die Trennung zwischen Oberwelt und Unterwelt aufge­hoben23, die Vermischung der Gegensätze möglich – die Göttinnen des Morgenrots und des Regenbogens verbreiten in der Hölle farbliche Akzente – und Ceres mit Proserpina vereint. An dieser Stelle lohnt sich der Rückblick auf das Visualisierungsproblem, das vorher bereits angesprochen wurde. Viele Wörter entstammen aus dem lexikali-schen Feld des Lichts – so «Strahlen» (V.15), «Tag, der alles findet» (V.19), «Flamme» (V.39), «goldnem Saal» (V.46), «goldne Licht» (V.54) – und des Sehver­mögens: «Angesicht» (V.18), «Verlorne» (V.20), «Aug' verschlossen» (V.29), «Bild» (V.32), «Blick» (V.36), «Auge» (V.53) und «entdecket» (V.57). Dem entge­gengestellt ist das Dunkle: «des Orkus schwarzen Flüssen» (V.23), «nach dem düstern Strande» (V.25), «Schatten» (V.28), «nächtliche Gefild'» (V.30), «dunkeln Strand» (V.42), «Nacht der Nächte» (V.45), «finstern» (V.49). Licht, Tag und Sehen sind Dunkelheit und Nacht entgegengestellt, genau wie die Ober- der Unterwelt. Die Betonung dieser Gegensätze geht unter anderem auf Ceres vergebliche Suche nach ihrer Tochter zurück. Vor allem nach visuellem Kontakt sehnt sich die Göttin und gerade dieser kann nicht zustande kommen. Das Problem wird in den Strophen 2 bis 5 zu einem «Einander-nicht-sehen-Können» verschoben24. Eigentlich stünde Ceres nichts im Weg, Proserpina zu sehen, doch das Beleuchtungsproblem vereitelt die Absichten – nicht der Tod der Tochter, die ab jetzt in der Unterwelt residiert und nicht die Ehe mit Pluto, die sie zur Herrscherin der Toten macht. Strophe 6 ist auch insofern eine Wende, weil Ceres sich nicht mehr diesen Illusionen hingibt und nun bereit ist den Schmerz teilweise hinter sich zu lassen und sich eine Welt zu schaffen in der sie mit dem Verlust umgehen kann. Noch betont Ceres die Entfernung und den fehlenden Bezug zu ihrer Tochter durch rhetorische Fragen.

''Ist mir nichts von ihr geblieben, Nicht ein süß erinnernd Pfand, Daß die Fernen sich noch lieben, Keine Spur der theuren Hand? Knüpfet sich kein Liebesknoten Zwischen Kind und Mutter an? Zwischen Lebenden und Todten Ist kein Bündniß aufgethan? Nein! Nicht ganz ist sie entflohen, Nein! Wir sind nicht ganz getrennt!'25

Gegen Ende der siebten Strophe kann Ceres sich selbst auf die Frage antworten, ob denn überhaupt keine Verbindung zu ihrer Tochter existiert: Sie spricht von einer «Sprache», die ihr und Proserpina «doch vergönnt» sei (V.84). Was mit dieser ver­bindenden Sprache gemeint ist, bleibt vorerst verrätselt, wird aber in der folgenden Strophe erklärt.

Im Herbst - «wenn des Frühlings Kinder sterben» (V.85) – entnimmt Ceres von den sterbenden Pflanzen «des Saamens goldnes Korn» (V.92), woraus neues Leben entstehen kann. Dieses pflanzt sie ein,

''Daß es eine Sprache werde Meiner Liebe, meinem Schmerz.''26

Dadurch, dass der Samen in der Erde versenkt ist, hat Ceres ihn «an des Kindes Herz» (V.94) gelegt, er ist Proserpina nahe. So kann er als Sprach- und Ver­mittlungsinstanz zwischen Ober- und Unterwelt dienen und Ceres Zuneigung und Trauer an die Tochter transportieren. Ceres hat die Trennung von Ober- und Unter­welt, in der Proserpina gefangen ist, untergraben.

Während die erste Gedichthälfte auf der strengen Trennung zwischen Tag und Nacht, [...] Lebenden und Toten als der einzigen Wirklichkeit beharrt und jede Vermischung der beiden Sphären als müßigen Wunschtraum oder in unendliche Ferne gerückte Endzeiter­wartung kennzeichnet, setzt sich der zweite Teil des Gedichts eben diese Vermischung zum Ziel.27

Im Frühling keimt und wächst der Samen, «das Todte wird neu gebohren» (V.99). Die Antithese zeigt die Verbindung zwischen den beiden Welten an: Die Wurzeln reichen in die Unterwelt während der Rest der Pflanze Teil der Oberwelt ist. Zudem kann nur durch das Zusammenspiel beider Bereiche die Saat wachsen. Einerseits benötigt sie «der Erde kalte[n] Schooß» (V.102), gleichzeitig aber auch «der Sonne Lebensblick» (V.100)28. Es findet eine Verschmelzung statt, die nicht wie in V.69 bis V.72 halluzinatorisch bleibt. Sie ist auch nicht eine vollkommen reale sondern eine künstlerische. «Himmel» (V.105) und «Nacht» (V.106), das heißt Ober- und Unter­welt, das Leben («Lenz», V.98) und das «Todte» (V.99) sind nicht mehr vollständig voneinander getrennt.

Erst nachdem im ersten Teil (des Gedichts) die Tatsache akzeptiert ist, daß es diese Ver­mischung der beiden Bereiche in der Welt der naturgesetzlich bestimmten Lebensprozesse nicht gibt, kann in der Welt der Symbolisierungsprozesse und der Schönheit genau ein solches Zusammenspiel der beiden geschiedenen Bereiche gesucht werden.29 (Anm. R. Phillips.)

Die Pflanze, die «Halb [...] der Todten / Halb der Lebenden Gebiet» (V.109f) be-rührt, diese von Ceres erschaffene Sprache, ersetzt die visuelle Präsenz der Tochter nicht, dient aber als Zeichen von und für Proserpina.

''Hält er gleich sie selbst verschlossen In dem schauervollen Schlund, Aus des Frühlings jungen Sprossen Redet mir der holde Mund, Daß auch fern vom goldnen Tage, Wo die Schatten traurig ziehn, Liebend noch der Busen schlage, Zärtlich noch die Herzen glühn.''30

Durch diese gewonnene Verbindung zur geliebten Tochter schafft es Ceres, ihre Trauerarbeit in der letzten Strophe zu Ende zu führen. Sie erfährt Freude am Früh­ling; die Pflanzen lassen sie einerseits an ihren «Schmerz» (V.132), an den Verlust Proserpinas denken, gleichzeitig «kann sie sich jetzt dieser Natur auch um ihrer selbst willen zuwenden und in sie Liebe investieren»31. Die Natur ist von Ceres kul­tiviert und künstlerisch bereichert, in dem sie die Blätter mit «der Iris schönstem Licht» bemalt (V.126f) – diese Darstellung ist völlig unterschiedlich von der Natur in der ersten, einleitenden Strophe ist; diese Natur ist ein Kunstwerk geworden.

Ceres schafft es durch ihre künstlerische Betätigung die Trauer so weit zu über­winden, frei davon zu werden, dass sie ihr göttliches Dasein wieder normal weiterführen kann. Sie lässt die Saaten erneut wachsen und kann sich an ihnen er­freuen. Sie empfindet noch immer «Schmerz», aber auch «Lust» (V.132); sie ist frei auch andere Sachen außer der Trauer zu fühlen.

Dass Schillers Werke nach seiner theoretischen Beschäftigung ohne Kenntnis dieser philosophischen Schriften schwer verständlich sein können, wurde bereits erläutert. Besonders eine Stelle in den Aufsätzen Über die ästhetische Erziehung des Menschen verleitet dazu, Ceres Weg zur Freiheit auch theoretisch zu erleuchten, weil es, so Schiller, «die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert»32. Die «Kinder der verjüngten Au» (V.122), die Ceres in der letzten Strophe der Klage der Ceres so kunstvoll bemalt, kann man sich durchaus als Schönheit vorstellen. Selbstverständlich meint Schiller nicht, dass man lediglich durch den Anblick eines schönen Blumenstrauß zur Freiheit findet. Doch wenn die Frühlingsnatur als Metapher für Schönheit gelten darf, ergeben sich bei der Lektüre der Klage der Ceres Querverweise auf Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.

Zu Beginn erfolgt eine kurze Untersuchung, ob die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen auf eine Göttin übertragen werden können.

Grundsätzlich scheint Ceres als Göttin in Schillers Gedicht besonders menschlichen Eigenschaften zu haben. Es sind nicht die Querelen, über die sich andere im Olymp streiten – Eifersucht, Verrat oder ähnliches – sondern die Sorge, die Ceres in der Version Schillers von der üblichen Darstellung der Gottheiten abhebt. Denn die Griechen ließen «sowohl den Ernst und die Arbeit [...] als die nichtige Lust [...] aus der Stirne der seligen Götter verschwinden, gaben die ewig zufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frey [...]»33 (Hervorhebung R. Phillips). Diese Freiheit von Sorge greift bei dem Gedicht Klage der Ceres sicher nicht. Mücke spricht von einer «Vermenschlichung der Göttin als trauernder Mut­ter»34. Somit kann angesetzt werden, dass die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen eine Relevanz für Schillers Ideengedicht haben können, und es nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass Ceres als Göttin eine Identi­fikationsfigur für diese Schriften bildet.

Schiller geht von zwei Trieben im Menschen aus. Der Stofftrieb oder sinnliche Trieb «geht aus von dem physischen Daseyn des Menschen oder von seiner sinn­lichen Natur»35. Dieser Trieb bildet, im Gegensatz zum Formtrieb, den Natur- und Sinnesanteil im Menschen. Der Formtrieb auf der anderen Seite wirkt ihm ent­gegen, er «geht aus von dem absoluten Daseyn des Menschen oder von seiner ver­nünftigen Natur»36, von seiner Ratio also. Die Triebe wirken sich aber nicht nur ent­gegen, sie schließen einander sogar aus, «[d]a alles, was in der Zeit ist, nach ein­ander ist»37 (Hervorhebung F. Schiller). Das Problem, dass aus diesen sich entge­genwirkenden Trieben ergibt, erläutert Schiller im vierzehnten Brief Über die äs­thetische Erziehung des Menschen:

''Daß er [...] in voller Bedeutung des Worts, Mensch ist, kann er nie in Erfahrung bringen, solange er nur Einen dieser beyden Triebe ausschließend, oder nur Einen nach dem An­dern befriedigt.''38

Im Fall der Göttin Ceres äußert dies sich folgendermaßen: Ihr Hauptgewicht liegt auf dem Stofftrieb, auf ihren Sinnen, ihren Empfindungen, der Natur. Dies wird be­stärkt durch die Stärke der Emotionen, die in Verbindung mit dem Verlust ihrer Tochter Proserpina entstehen. «Der sinnliche Trieb kommt [...] früher als der ver­nünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem Bewußtseyn vorhergeht [...]»39, auch dies findet sich in dem Gedicht Klage der Ceres bestätigt. Bevor Freiheit entstehen kann muss sich zuerst der zweite Trieb entwickeln:

''Sie [die Freiheit] nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, so lang er unvollständig und einer von beyden Trieben ausgeschlossen ist [...]''40

Dies kann in der sechsten Strophe der Klage der Ceres passieren. Zuvor werden die Sinnesempfindungen der trauernden Mutter dargestellt; in V.61 dann heißt es plötz­lich: «Eitler Wunsch! Verlorne Klagen!». Ceres nimmt Abstand von ihren Wun­schvorstellungen und stellt sich der Realität. Ihre Vernunft spricht nun: «Einmal in die Nacht gerissen, / Bleibt sie ewig mir geraubt» (V.67f). Der Formtrieb tritt in Er­scheinung.

Da nun aber Formtrieb, also Vernunft, und Stofftrieb, die Sinne, gleichzeitig vorhanden sind – Ceres stellt sich der unabänderlichen Realität, deswegen empfin-det sie aber noch immer den Verlust Proserpinas – kann die dritte Instanz, die Ver­mittlungsinstanz, nämlich der Spieltrieb greifen.

''Der Gegenstand des Spieltriebes [...] wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und, mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.''41

Der Spieltrieb entsteht jedoch nicht von allein; er muss erst durch die Betrachtung des Schönen geweckt werden, und dieses Schöne muss sowohl den Stofftrieb und den Formtrieb gleichzeitig bewegen.

''Die Harmonie sämtlicher Gemütskräfte wird erst dann Ereignis im Spiel als der ge­meinschaftlichen, harmonischen Wechselwirkung von Form- und Stofftrieb, wenn deren gemeinsames Objekt die Schönheit ist''.42

Beide Triebe müssen die «lebende Gestalt» als gemeinsames Objekt finden. Der Weg dorthin führt über Ceres Vorstellung der verbindenden Sprache und endet da-mit, dass Ceres selbst Künstlerin wird, nämlich in der letzten Strophe des Gedichts. Hier sind sowohl Stofftrieb als auch Formtrieb auf die Schönheit ausgerichtet. Die Sinne sehen in der Schönheit der wachsenden Pflanzen die Verbindung zur Tochter, die Vernunft hat durch diese einen Weg gefunden, Proserpina nicht erst am Ende der Zeiten wiederzufinden.

''Da sich das Gemüth bey Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und Bedürfniß befindet, so ist es eben darum, weil es sich zwischen beyden theilt, dem Zwange sowohl des einen (Triebs) als des andern entzogen.''43 (Anm. R. Phil­lips)

Von ihren Trieben, vor allem durch den Stofftrieb, nicht mehr beherrscht, kann Ceres ihre Trauerarbeit zu Ende führen; ihr ist es möglich, dieses ideale Gleich-gewicht zu finden, dem Menschen bleibt es verwehrt: «Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann.»44

Mit seinen theoretischen Schriften hat Friedrich Schiller dem Leser ein Mittel zur Hand gegeben, um tiefer in seine Werke einzusteigen. Diese nicht zu kennen nimmt seinen Gedichten oder Dramen weder ihre Eleganz noch ihre Zeitlosigkeit – selbst heute, über zweihundert Jahre nach seinem Tod, zählen seine Bühnenstücke zu den meistaufgeführtesten in Deutschland. Doch mit diesem zusätzlichen Wissen, das man aus seinen philosophischen Überlegungen ziehen kann, lassen sich seine Arbeiten auf eine ganz andere Weise erschließen, ein Tatsache, die man als deut­lichen Zugewinn für den Leser oder Zuschauer rechnen darf.


LITERATURVERZEICHNIS

Wissenschaftliche Ausgabe eines Autors Schiller, Friedrich: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2 / I: Gedichte. Hrsg. Norbert Oellers. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1983 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Hrsg. Klaus L. Berghahn. Ditzingen: Reclam 2006

Monographie Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. München: C. H. Beck 2004. Hughes, Jula: Eigenzeitlichkeit. Zur Poetik der Zeit in der englischen und deutschen Romantik. Univ. Diss.: Erlangen-Nürnberg 1996 Rose, Herbert J.: Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München C. H. Beck 1988

Monographie in einer Reihe Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Franzö­sischen Revolution 1789 – 1815. München: Hanser 1987. (=Hansers Sozialge­schichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 4)

Aufsatz in einem Sammelband Koopmann, Helmut: Schillers Lyrik. In: Schiller-Handbuch. Hrsg. Helmut Koop­mann. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1998. S.303 – S.325 Mücke, Dorothea von: Entzauberte Natur und Tod in Schillers Klage der Ceres. In: Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hrsg. Georg Braungart und Bernhard Greiner. Hamburg: Meiner 2005. S.221 – S.232

Lexikon Brockhaus. Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Hrsg. Gerhard Wahrig. Stuttgart: Deut­sche Verlags-Anstalt 1981 Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Wien: Brüder Hollinek Verlag 1959