SoSe o6 / FS 2 / Proseminar NdL "Robert Musils Vereinungen"

Das verzauberte Haus

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Stoffsammlung

Kurze Überlegungen über Teile des Textes, die schwer verständlich sind bzw. Fragen aufwerfen. Abgabe: Di, o2.o5.2oo6 an uta.klein@germanistik.uni-muenchen.de

Robert Musil: Das verzauberte Haus. Vereinigungen. In: Robert Musil. Gesammelte Werke. Band 6: Prosa und Stücke. Hrsg. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowolth 1978, S. 141 - 223.


*"Es ging ihm, wie es auch andern geht, wenn sie plötzlich zwei Seelen mit blutigen Eingeweiden ineinander verschlungen sehen. Denn mag es sich um ein erstes Sichineinanderstürzen, um ein belauschtes Liebespaar oder um eines sterbenden Menschen schamlos vergessenes sich Stemmen und Klemmen: keiner weiß warum, aber man liebt nicht, daran erinnert zu werden, daß die äußersten Heimlichkeiten des Leides und der Lust, die man als die tiefsten Erregungen des eigenen Wesens ahnt, den einen ohne Unterschied gegen den anderen treffen; man fühlt das wie einen Eingriff, wie ein Zunahekommen, man rückt ab, man sucht unwillkürlich das gestörte Gleichgewicht wiederzugewinnen und statt Mitgefühl zu empfinden wird man von einem ruchlosen Trieb der Notwehr gedrängt, das Gesehene als wiederwärtig oder lächerlich zu fühlen." (S. 148, Z. 2 - 16) * Antithese: Seele üblicherweise nicht materiell, sogar Gegenteil von Körperlichem ("blutigen Eingeweiden") * den einen: Menschen? Hä? Wa?

*"Alles, was sie tat, geschah, wie wenn es gleich schweren, kostbaren Gewändern an ihr herabfiele, an ihren Bewegungen hing das Spiel edler goldener Ketten, - oder alles, was sie tat, geschah wie durch einen weiten Ausblick gesehen; es war von jenem leise mitschwingenden Verständnis begleitet, das die Handlungen auf einer Bühne zusammendrängt und wie zu Zeichen eines im flachen Kieselgeflecht des Bodens sonst unsichtbaren Weges auftürmt. Aber alles war noch Ahnung. Nichts noch hob so sein Gesicht hervor, daß die Finger es halten konnten, alles wich noch zwischen den leise tastenden Händen aus. Es war bloß nicht mehr jene schwarze, klebrige Masse, die stumpf und häßlich alle Formen verwischt hatte, es lag nur mehr wie eine ganz dünne, seidene Maske über der Welt, hell und silbergrau und bewegt wie vor dem Zerreißen." (S. 15o, Z. 3 - 16) * Kann Bild nicht aufdröseln. * Es: Das Gesicht Johannes, vgl. nächste Notiz.

*"Es blieb ein leerer ungeheurer Raum dazwischen und in diesem lebte ihr Körper. Er sah die Dinge um sich, er lächelte, er lebte, aber alles gescah so beziehungslos, und häufig kroch lautlos ein zäher Ekel durch diese Welt, der alle Gefühle wie mit einer ''Teermaske'' verschmierte." (S. 151, Z. 13 - 17) * Er: der Körper Viktorias, * oder der leere Raum?

*"Es schloß und wölbte sich etwas in die Höhe, es strömte von allen Seiten herzu und hob sich hinauf...Viktoria hatte ein Gefühl, wie wenn ihr Leben plötzlich wie ein riesiger Raum mit schweigend flackernden Kerzen um sie stünde." (S. 153, Z. 18 - 22) * Es: ??? Gefühl schwer nachvollziehbar. * ständiger Vergleich Viktorias Leben mit nicht lebendigen Dingen, v.a. auch leeren, unwohnlichen, ungemütlichen Dingen auffällig.

*"Kinder haben keine Seele. Auch die Toten haben keine Seele. Sie sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie können noch alles werden oder alles gewesen sein. Sie sind wie Gefäße, die Träumen Form geben, sie sind Blut, mit dem sich die Wünsche der Einsamen lebendig schminken." (S. 153, Z. 27 - 31) * Ausdruck der Wunschvorstellungen, Sachen, die in der Vergangenheit potentiell hätten passieren können * Leben in Wunschwelten * Gegensatz Seele - Blut

*"Es gab ein wahnsinnig stilles Liebesspiel, wo sie ihre Blicke leise wie Nadeln in ihn hineingleiten ließ, tiefer und tiefer, ob nicht in einem Zittern seines Lächelns, in einem Anziehen (?) seiner Lippen, in irgendeiner Bewegung der Qual etwas so herbstlich Verschenktes sich der suchenden Liebe entgegenhübe. (...) Und Viktoria beugte sich tiefer über ihn, sie beugte sich ganz nahe über ihn, sie beugte sich in ihn hinein bis zu jenem innersten Widerstand, über den kein Fremder hinweg kann, sie versuchte sich noch über diese Grenze zu beugen." (S. 153, Z. 4o - S. 154, Z. 9) * Viktorias verdrehtes, fast krankes Verständnis von Liebe (=Qual) * Sie als dominante Person in der Beziehung, Versuch den Partner bis zu den äußersten Grenzen zu beherrschen

"Sie saß mit der Kunkel und spann an Fäden zu ziehenden Bildern, denn nun hatte er keine Seele." (S. 154, Z. 28f) * der altdeutsche Begriff für Spinnrocken; siehe auch: Kunkellehen. Die Kunkel (von lateinisch conucula), meist ein Stab, diente als Halterung für die ungesponnene Rohfaser aus der Garn gesponnen wurde. * Kunkellehen: Als Kunkellehen wurde im alten deutschen Recht unter dem Feudalismus seit dem Hochmittelalter im 12. Jahrhundert das Lehen bezeichnet, das beim Aussterben des Mannesstammes an die weibliche Linie überging. Die Kunkel wird hier zum Symbol des Weiblichen, da das Spinnen eine typisch weibliche Tätigkeit war. * Lebensfaden spinnen - vgl. Mythologie.

"Es redeten, hörbar in der Nacht, die unentwirrbar verwobenen Stimmen der Dinge: was war dies in ihr, das mit einer fern und unfaßbar dahingehenden Melodie antwortete?" (S. 155, Z. 3ff) * unentwirrbar / verwobenen - vgl. vorhergehendes Spinnen an der Kunkel * Johannes (wahrscheinlich übertragbar auf Viktorias gesamtes Bild der Menschen) ist nur ein Ding für sie * * Viktoria selbst fühlt sich (ist es ihr klar?) ''verdinglicht'', denn etwas in ihr "antwortete" auf die "Stimmen der Dinge"

"Denn so stand sie als junges Mädchen, und während sie hinabsah, war ein knisternder Widerstand um sie, als ob feine Glasspitzen abbrächen, wenn ihr der Blick eines Menschen zu nahe kam. Und sie stand später hier, damals, als sie ihrem Haar in der Nacht phantastische Frisuren gab und ihren Fingern (...) die Namen von märchenhaften Liebhabern, die alles sie selbst waren. Sie stand immer hier, wenn sie niemanden liebte als sich und wenn sie sich vor den Menschen ängstigte, weil ihre Liebe so ''wehrlos weich war wie'' eine dunkle wunde Schnecke, die mit leisem Zucken nach einer zweiten sucht, an deren Leib es sie verlangt, aufgebrochen und sterbend zu kleben." (S. 156, Z. 1o - 22) * (...) = - die sie mit riechenden Wassern wusch, wenn sie die Hände eines andern berührt hatten, - * Wunschvorstellung von einem anderen Leben (Reichtum?) * Thematisierung der Selbstbefriedigung * Möglichkeit: Viktoria schämt sich dafür, kann sich deshalb niemanden öffnen - Hingabe an Demeter (vgl. Mythologie: Fruchtbarkeitsgöttin) erfolgt aus Moment der Schwäche * "niemanden liebte als sich" - Narzissmus ist eine Charaktereigenschaft, die sich durch ein geringes Selbstwertgefühl bei gleichzeitig übertriebenem Gefühl der eigenen Wichtigkeit und großem Wunsch nach Bewunderung auszeichnet. * * Hierzu auch: Nach Sigmund Freud unterscheidet man den primären und sekundären Narzissmus. Beim primären Narzissmus richtet das Kleinkind seine sexuelle Energie (Libido) ganz auf sich selbst. Beim sekundären Narzissmus wird die sexuelle Energie von äußeren Objekten wieder abgezogen und auf sich selbst bezogen (Regression). Dieser Zustand trete vor allem nach enttäuschter Liebe oder Selbstwertkränkungen auf.

*"Und nun packte sie die Angst vor alle denen, die in den Wänden versteckt waren. Sie saßen in diesem Hause wie scheue Vögel in den Haaren eines riesigen Tiers und schaukelten in der Dunkelheit und sahen sie an, und ganz heimlich, wie kleine Läuse auf solchen Vögeln, krochen ihre Gedanken durch das Haus und füllten es mit sich und mit Liebe und Freundschaft wie mit einem weichen, klebrigen Leben, das sich lautlos in unaufhaltsamen Kreisen um Viktoria legte, enger und enger, und schweigend wuchs und stumm sich schloß und langsam sich über sie schob...wie ein heißer, grauenhafter Leib, und reglos sie niederdrückte." (S. 159, Z. 17 - 27) * Paranoia * Darstellung von Liebe und Freundschaft als etwas Ekelerregendes, Widerliches, einhergehend mit Sex (v.a. in diesem Fall auch zu sehen: "ein heißer, grauenhafter Leib" - unerwünschter Sex, wenn nicht sogar in Richtung Vergewaltigung oder Prostitution)

*"Da schoß eine Lust in ihr heraus, mit den Zähnen in dieses Leben zu schlagen, damit es endlich schreiend auseinanderfahre und sie mit seiner Fülle überschütte und in seiner Gier über sie herfalle. Es war ein taumelndes Empfinden, ein letztes Sichpreisgeben und eine ätzend bittere Lüsternheit in ihr, wie wenn sie in einem trägen Wirrsal scheußlich verschlungener Menschen ihren Leib verloren hätte und nicht mehr wüsste, ob es etwas Fremdes ist, das gräßlich über ihn (=den Leib) kriecht, oder ob er in der wollüstigen Verwirrung zuckend sich selbst berührte." (S. 159, Z. 28 - 36) * Sex mit anderen ("etwas Fremdes (...), das gräßlich über ihn kriecht") als widerwärtig empfunden * Masturbation scheint, wenn es auch Scham bedingt, in Kombination mit Egoismus / Narzissmus, für Viktoria die einzige Art Liebe zu sein, die sie ertragen kann

*Bemerkung: Bei der sexuellen Annäherung / Beziehung mit Demeter ist Viktoria, anders als in ihren Vorstellungen, ihm untergeordnet, unterworfen fast.

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Ausarbeitung

Hallo Dr. Klein,

Ich habe inzwischen festgestellt, dass ich mir "Das verzauberte Haus" aus einer anderen Ausgabe der gesammelten Werke von Musil herauskopiert habe als aus derjenigen, die Sie angegeben hatten (von Frisé). Natürlich habe ich vergessen, mir aufzuschreiben welches Buch das war (bzw. vielleicht ist es auch nur eine andere Auflage desselben), werde es aber schnell nachholen denn die Seitenangaben beziehen sich auf diese andere Ausgabe! Ich hoffe, es macht nichts wenn ich es vorab so schicke.

Gruß Roxanne Phillips


"Es ging ihm, wie es auch andern geht, wenn sie plötzlich zwei Seelen mit blutigen Eingeweiden ineinander verschlungen sehen. Denn mag es sich um ein letztes Auseinanderreißen handeln oder um ein erstes Sichineinanderstürzen, um ein belauschtes Liebespaar oder um eines sterbenden Menschen schamlos vergessenes sich Stemmen und Klemmen: keiner weiß warum, aber man liebt nicht, daran erinnert zu werden, daß die äußersten Heimlichkeiten des Leides und der Lust, die man als die tiefsten Erregungen des eigenen Wesens ahnt, den einen ohne Unterschied gegen den anderen treffen (Hvhbg. R.P.); man fühlt das wie einen Eingriff, wie ein Zunahekommen, man rückt ab, man sucht unwillkürlich das gestörte Gleichgewicht wiederzugewinnen und statt Mitgefühl zu empfinden wird man von einem ruchlosen Trieb der Notwehr gedrängt, das Gesehene als wiederwärtig oder lächerlich zu fühlen." (S. 148, Z. 2 - 16)

Wo das Unverständnis an vielen anderen Stellen des Textes oft durch eine hohe Dichte der Bildlichkeit zustande kommt, weil zu viele unterschiedliche, für den Leser plastisch beschriebene Umschreibungen von Gefühlen oder Zuständen aufeinandertreffen, stellt sich hier eine andere Art von Problem, nämlich das der Wortwahl, und damit des Sinnes und des Bezuges. Mit "den einen" und "den anderen" sind mutmaßlich Menschen gemeint. Lässt man den eingeschobenen Satz weg entsteht: "[...]man liebt nicht, daran erinnert zu werden, daß die äußersten Heimlichkeiten des Leides und der Lust[...], den einen ohne Unterschied gegen den anderen treffen." Kann man sinngemäß sagen: Man liebt nicht, daran erinnert zu werden, dass alle Menschen gleichermaßen von den "äußersten Heimlichkeiten des Leides und der Lust" getroffen werden? Aber warum "gegen den anderen"? Vielleicht handelt es sich hier um eine Redewendung, die im 21sten Jahrhundert ungebräuchlich geworden ist.


"Alles, was sie tat, geschah, wie wenn es gleich schweren, kostbaren Gewändern an ihr herabfiele, an ihren Bewegungen hing das Spiel edler goldener Ketten, - oder alles, was sie tat, geschah wie durch einen weiten Ausblick gesehen; es war von jenem leise mitschwingenden Verständnis begleitet, das die Handlungen auf einer Bühne zusammendrängt und wie zu Zeichen eines im flachen Kieselgeflecht des Bodens sonst unsichtbaren Weges auftürmt (Hvhbg. R.P.). Aber alles war noch Ahnung." (S. 15o, Z. 3 - 10)

Grundsätzlich ist das Unverständnis an dieser Stelle nicht von einem generellen Unverständnis des Textes begleitet, aber es fällt schwer das Bild erstens aufzuschlüsseln, also zu imaginieren und zweitens, die Ebene zu sehen, die hinter dem bloßen Bild steht, also die Bedeutung im Zusammenhang mit dem Rest der Erzählung. Das "leise mitschwingende[] Verständnis" drängt die Handlungen auf Bühnen zusammen; diese sind im "flachen Kieselgeflecht des Bodens" sonst wie ein unsichtbarer Weg?


"Kinder haben keine Seele. Auch die Toten haben keine Seele. Sie sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie können noch alles werden oder alles gewesen sein. Sie sind wie Gefäße, die Träumen Form geben, sie sind Blut, mit dem sich die Wünsche der Einsamen lebendig schminken (Hvhbg. R.P.)." (S. 153, Z. 27 - 31)

Das Groteske dieser Beschreibung lässt stutzen, nach und nach eröffnen sich jedoch die möglichen Bedeutungen. Zum Einen stellt dies Bild die Sehnsucht der Einsamen nach einem anderen Leben dar, vielleicht sogar den Wunsch, eine andere Person zu sein (z.B. die, mit deren "Blut" man sich "lebendig schmink[t]". Das Bild erscheint deshalb so drastisch, weil Tote als "Blut" bezeichnet werden, obwohl man bei Toten eher an blutlose, bleiche Leichen denkt.


"Es redeten, hörbar in der Nacht, die unentwirrbar verwobenen Stimmen der Dinge: was war dies in ihr, das mit einer fern und unfaßbar dahingehenden Melodie antwortete?" (S. 155, Z. 3ff)

Zum Einen: Viktorias (Wahn-)Vorstellungen von "Dingen", die in den Wänden und überall im Haus "reden", zeigen, dass Viktoria nicht ganz so unbewegt von ihrer Tat ist, wie sie annimmt. Das etwas in Viktoria selbst "antwortete", in den "Stimmen der Dinge", nimmt ihr einen Teil ihres Menschseins. Das Kuriose ist, das Johannes, da nun ohne Seele (S.154, Z.28f), quasi für sie zu einem "Ding" geworden ist. Dies könnte zum einen heißen, Viktoria hat auch keine Seele, oder, wahrscheinlicher, dass sie hier vielleicht eine Art Vereinigung, oder zumindest Verständigung mit ihm erlebt.