Hof- und Reichstag

Reichstag ist ein für das dt. MA anachronismusbedrohter Forschungsbegriff zur Bezeichnung unterschiedlicher Phänomene:

  1. für besser mit dem Kunstwort „Hoftag“ benannte herrscherberufene Versammlungen von Großen zwecks Rat und Hilfe für den Herrn, wie es wohl vor der Ausbildung festerer Verfassungsformen im ganzen mittelalterlichen Europa üblich war
  2. für Versammlungen von Großen in Opposition zum Herrscher und während der Thronvakanz (königsloser Tag und Wahltag)
  3. wohl seit etwa 1470 für Versammlungen, die ohne Zäsur zu dem um und nach 1500 voll ausgebildeten Reichstag führten, als Antwort auf spezifische Herausforderungen dieser Generation.

Der Quellenbegriff Reichstag ist nicht vor 1495 und selbst damals und später nicht ganz eindeutig bezeugt. Wurzeln des Reichstags waren der Hoftag samt dem königslosen Tag, das Kurfürstentum und offenbar breitgelagerte Verdichtungsprozesse des ausgehenden MA im politischen Feld, im kommunikativ-ökonomischen Bereich und beim nationalen Bewußtsein. Der Hoftag, als Herrschaftsinstrument von Königen am Anfang der dt. Geschichte nichts Neues, war die gemäß dem Bedarf des Herrn an Regierung, Gesetzgebung und Justiz unregelmäßig einberufene Versammlung der Großen. Diese ist ziemlich formlos entboten und veranstaltet worden, abgesehen von möglicherweise rituellen Formen. Zu Rat und Hilfe wie schon zur Hoffahrt waren die Getreuen prinzipiell verpflichtet, Verhandlungssache war „nur“ die konkrete Ausformung des Beistands. Nicht minder bedenkl. war, wenn zu wenige Große kamen. Sie nahmen stets auf Grund eigener politischer Berechtigung teil und vertraten niemanden als sich selbst. Die Frage nach einigermaßen lückenloser „Repräsentation“ der Großräume des Reiches stellte sich nicht. Regeln des politisch hochempfindlichen Umgangs Großer mit Großen waren nicht weniger wichtig als „Verfassungsnormen“, schon da der Hoftag stets auch als „Steigerung“ des täglichen Herrscherhofs zu verstehen ist. Der umherziehende König berief Hoftage in verschiedenen Regionen zur Bindung der regionalen Kräfte. Aus allen diesen Gründen sollte man den Hoftag weit von neueren Repräsentationskörperschaften abrücken. So konnte auch der Herrscher kein Interesse an festen Formen haben, die ihn nur behindert hätten.